Weltbürger
aus Duderstadt
Milliardenschwere Fabrikanten aus dem deutschen Mittelstand gelten nicht gerade als unkonventionelle, risikofreudige Draufgänger.
Bis auf einen: Hans Georg Näder
Das Capriccio ist ein sehr italienisches Lokal im feinen Grunewald, tief im Westen von Berlin und weit weg von den Szenetreffs der Hauptstadt. Der Patron begrüßt mit Handschlag, er hat viele Stammgäste, einige kennt man aus dem Fernsehen. Hans Georg Näder nutzt das Capriccio als eines seiner Wohnzimmer an Abenden in Berlin. Er ist ein Weltreisender, besitzt etliche Häuser an Orten, von denen andere träumen. Aber verliebt hat er sich in Berlin, „diese unfertige, raue Stadt“. Am Potsdamer Platz hat Näders Unternehmen eine schicke Dependance, in deren Showroom sind seine Produkte ausgestellt: Arm- und Beinprothesen, Rollstühle, Orthesen, medizinische Wundermittel. Otto Bock, sein Großvater mütterlicherseits, gründete die Firma 1919, sein Vater Max Näder führte sie auf alle Kontinente, Hans Georg Näder hat sie in einen Hightech-Konzern verwandelt. Otto Bock Health Care, so das Firmenversprechen, gibt Menschen ihre Mobilität zurück, in 140 Ländern.
Über die Fähigkeit, das Leben zu genießen — und andere daran teilhaben zu lassen
In Deutschland verhält sich das Geld eher still. Familienunternehmen werden hinter hohen Mauern regiert, mindestens hinter hohen Hecken. Näder ist überhaupt nicht still.
Näder, geboren im südniedersächsischen Duderstadt, hat viele Facetten. Die meisten decken sich kaum mit dem gängigen Bild eines Milliardärs aus der Provinz. So taucht der Name des passionierten Seglers immer wieder bei großen und kleinen Wohltaten auf. Die Ottobock Global Foundation kümmert sich um syrische Flüchtlinge in der Türkei, versorgt die Versehrten des Krieges mit Prothesen und Rollstühlen, hilft Erdbebenopfern in Nepal und Kindern in den Favelas von Rio. Näder gibt bei den Paralympics fünf Millionen Euro für die technische Unterstützung der Athleten aus, rettete die Nationale Anti-Doping-Agentur vor dem finanziellen Kollaps, fördert sozial schwache Schüler am Prenzlauer Berg, spendierte in seinem Heimatort der katholischen Kirche eine Glocke, bewahrte das erste Hotel am Platze vor dem Abriss und schuf für zwei Millionen Euro ein Tabaluga-Haus für die Urlaube von behinderten oder sozial benachteiligten Kindern.
Den Spaß am „Geben“, so nennt er es, hätten ihm seine Eltern vorgelebt. „Die waren protestantische Christen, sehr weltoffen, mit einer starken Neigung zum Humanismus und zum Laisser-faire.“ Sein Vater habe in Duderstadt schon in den Achtzigern der kleinen, evangelischen Kirche eine millionenteure Orgel geschenkt. Und seine Mutter habe sich um SOS-Kinderdörfer gekümmert.
Für einen Moment blickt Näder auf sein Rotweinglas, hält inne. Dann sagt er: „Wenn man privilegiert ist, in so eine Familie und so eine Welt hineingeboren wird, dann sollte man auch bereit sein zu teilen.“ Näders Wohltaten sind ungeplant, sie passieren ihm, er entscheidet nach „Spaß und Bauchgefühl“ — und in der Tradition der Eltern.
Das deutsche Wirtschaftswunder gelangte bis nach Duderstadt
Hans Georg Näder wurde hineingeboren in den frischen Wohlstand der frühen Sechzigerjahre. Das Elternhaus, die prächtige Villa mit parkähnlichem Garten hat er umbauen und durch einen Neubau ergänzen lassen. Das „Max Näder Haus“ ist nun Sitz des Näder Family Office, des Firmenarchivs und Treffpunkt für Veranstaltungen. „Wissensspeicher und Begegnungsstätte, aber kein Museum“, so bezeichnet es Näder.
Näder nutzt die Geschichte der Firma, wie er es formuliert, „als Triebfeder für die Zukunft“. Es ist auch seine eigene Geschichte. Es war wohl Hans Georg Näders Glück, dass seine Noten in Mathe und Physik („grottenschlecht“) es praktisch ausschlossen, wie sein Vater Ingenieur zu werden. Er schrieb sich für Betriebswirtschaftslehre ein, brach das Studium jedoch ab, als Max Näder gesundheitlich schwächelte. Der Sohn war erst 28, als er am 75. Geburtstag des Vaters die Firma übernahm.
„Ich habe einen anderen Ansatz entwickelt als mein Opa, der Orthopädietechniker, und mein Vater, der Ingenieur. Über Marketing nachgedacht, nicht über kleine Schrauben. In kürzeren Zyklen gedacht, nicht in Dekaden. Mich von Herausforderung zu Herausforderung gehangelt.“
Erfindungen waren der Treibstoff der Firma auf ihrem Weg zum Milliardenumsatz. Viele der Produktentwicklungen, glaubt Näder, wären bei einem großen Konzern niemals durchgegangen. „Wir sind immer ein Start-up-Unternehmen geblieben.“ Rund 40 Firmen hat er gegründet oder gekauft, etliche davon auch wieder verkauft oder dichtgemacht. Er hat viel riskiert, Flops produziert und dabei jenes „Bauchgefühl“ entwickelt, das viele Mittelständler für sich als Erfolgsmuster reklamieren. „Ich bin wie ein Angler, der an der Alster sitzt, weit weg von den anderen Anglern. Und alle fragen sich: Warum sitzt der da? Weil er das Gefühl hat, dass da die Fische sind.“
Er sagt das ohne einen Hauch von Managersprech, vermeidet Anglizismen. Excel-Tabellen sind ihm ein Gräuel, einen Laptop hat er nie benutzt. Seine Qualitäten sieht er woanders: „Ich kann ganz gut mit Menschen.“
Viel Bewegung ist gut für eine kreative Firma
Vor sieben Jahren hat er im Prenzlauer Berg das Gelände einer ehemaligen Brauerei erworben. Nicht, weil er sich nach einem Investment umgesehen hatte, sondern weil der Barkeeper im Soho House Bestellungen nur auf Englisch entgegennehmen wollte. Näder verließ die Bar, spazierte durch die eiskalte Vollmondnacht auf der Suche nach einem Gin Tonic — und entdeckte auf einem Stück Industriebrache ein Bauschild, an dessen Seite sich bereits Efeu breitmachte. Wieder so etwas, das ihm einfach passiert sei.
Näder kaufte das Areal, gut 24.000 Quadratmeter. Er hätte auf dem Grund jede Menge Wohnungen bauen können. Oder wenigstens eine Shoppingmall. Aber er verzichtete auf das Baurecht. Er machte also, was vernünftige Investoren niemals machen würden.
Große Teile der Bötzow-Brauerei sind inzwischen restauriert, nach Plänen des englischen Stararchitekten Sir David Chipperfield. Ende des Jahres wird die Ottobock-Gruppe hier einziehen. Forschung und Entwicklung, das Marketing, eine digitale Truppe, rund 200 Menschen sollen demnächst für Ottobock auf Bötzow arbeiten. Dazu wird es Restaurants und Bars geben, ein Museum, auch mit Werken aus Näders stattlicher Kunstsammlung, eine Rehaklinik für Frischoperierte, denen Ottobock-Technik angepasst wird, Räume für Start-up-Unternehmen und ein Future Lab.
Näder will den Übergang vorbereiten für die vierte Generation, seine Töchter Julia und Georgia. „Wir werden bald so groß sein, dass das als Familienunternehmen nicht mehr geht“, sagt er. Top-Manager sollen das Geschäft übernehmen, wenn er sich zurückzieht; und auch die kommen eher nach Berlin als nach Duderstadt. Für Julia und Georgia hat der Vater Sitze im Aufsichtsrat vorgesehen.
100 Jahre alt wird die Firma demnächst. Für Hans Georg Näder kein Grund zur Melancholie. Weil er „die Zukunft gestalten“ will, opfert er nun die lang gehegte Tradition. Das Ende des Bauchgefühls naht.
Auszüge aus dem Porträt von Alfred Weinzierl, das in „Spiegel Classic“ (Ausgabe 01/2017) erschien.
Foto © Christoph Neumann